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Masking bei Autismus, ADHS und Essstörungen
Wenn Anpassung zur Überforderung wird – und Essverhalten zum Ausdruck innerer Not
Autor: Blog-Redaktion, 14. April 2025
Viele Menschen mit Essstörungen wirken nach außen stark, kontrolliert und leistungsfähig. Doch dieser Eindruck täuscht oft. Gerade Frauen und Mädchen, die Autismus oder ADHS haben, nutzen häufig eine unbewusste Strategie, um nicht aufzufallen: Masking – das gezielte Verbergen ihrer eigenen Bedürfnisse, Reaktionen und neurodivergenten Merkmale, um in sozialen Situationen möglichst „unauffällig“ zu sein. Langfristig kann dies jedoch die Entstehung von Essstörungen begünstigen.
Dieser Fachbeitrag beleuchtet, was hinter dem Phänomen Masking steckt, wie es speziell weibliche Betroffene mit Autismus oder ADHS betrifft und in welcher Verbindung es zu Essstörungen steht. Wir werfen einen Blick auf Ursachen, Beispiele aus dem Alltag, Schwierigkeiten in der Diagnostik, mögliche Folgen und neue Ansätze in der therapeutischen Begleitung.
Was bedeutet Masking?
Der englische Begriff „Masking“ (deutsch: „Maskieren“ oder „Verbergen“) beschreibt das bewusste oder unbewusste Unterdrücken von Impulsen, Verhaltensweisen oder Empfindungen. Ziel ist es, dem sozialen Umfeld ein Bild zu vermitteln, das den Erwartungen entspricht oder nicht negativ auffällt.
Menschen mit Autismus oder ADHS praktizieren Masking häufig in Schule, Beruf und Freizeit, um sich vor Ablehnung zu schützen. Sie versuchen dabei zum Beispiel:
- Sich nicht aus Gruppen zurückzuziehen, obwohl sie Reizüberflutung empfinden
- Unauffällige oder keine Stimming-Verhaltensweisen (z. B. mit den Händen spielen oder wiederholte Bewegungen) zu zeigen
- Augenkontakt herzustellen, obwohl es unangenehm ist
- Impulsive oder emotionale Reaktionen zu unterdrücken
Was nach außen wie souveräne Anpassung aussieht, kann für Betroffene ein enorm anstrengender Kraftakt sein – mit hohen psychischen Belastungen, die oft lange unerkannt bleiben.
Mädchen und Frauen: Unsichtbare Anpassung
Gerade Mädchen und Frauen sind häufig von Masking betroffen. Ein wesentlicher Grund: Autismus und ADHS gelten traditionell als „Jungen-Diagnosen“. In Erziehung, Medizin und Gesellschaft ging man lange davon aus, dass hauptsächlich Jungen diese Merkmale zeigen.
Daher lernen viele Mädchen schon früh, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Sie beobachten ihr Umfeld sehr genau und versuchen, sich anzupassen oder gleichsam „unsichtbar“ zu machen.
- Soziale Rollen werden übernommen, um nicht aufzufallen.
- Oft zeigen sie Perfektionismus, um mögliche Fehler oder Schwächen zu kaschieren.
- Konflikte werden vermieden, indem sie Bedürfnisse oder Gefühle im Verborgenen halten.
Die Folge: Zahlreiche Frauen erhalten ihre Diagnose (sei es Autismus oder ADHS) sehr spät oder gar nicht. Dabei sind gerade bei ihnen Merkmale wie Rückzug, perfektionistische Leistungsanforderungen an sich selbst, auffälliges Essverhalten oder eine starke innere Erschöpfung zu beobachten. Außenstehenden fällt dies jedoch nicht auf, weil sie scheinbar „funktionieren“ – und innerlich oft über die Grenzen ihrer Kräfte gehen.
Masking bei Autismus: Wenn das wahre Ich versteckt wird
Masking im Kontext Autismus bedeutet, dass Betroffene ihre autistischen Wesenszüge verbergen, um nach außen hin „typisch“ zu wirken. Das kann sich beispielsweise so zeigen:
- Erzwungener Augenkontakt, obwohl dieser Reize hervorruft, die Unbehagen oder Stress auslösen.
- Bewusste Kontrolle von Gesichtsausdruck und Körpersprache, um möglichst „passend“ zu reagieren.
- Unterdrücken von Stimming, obwohl es eine wichtige Form der Selbstregulation sein kann.
- Nachahmung sozialer Regeln, die nicht intuitiv verstanden werden, sondern kognitiv erlernt und mühsam einstudiert sind.
Dieser dauerhafte Kraftaufwand führt häufig zu Reizüberflutung und tiefer Erschöpfung. Viele Betroffene stellen sich zudem die Frage, wer sie ohne diese Maske eigentlich sind. Oft mündet das in Rückzug, in depressives Erleben oder in eine Fixierung auf kontrollierbares Verhalten – etwa ein gestörtes Essverhalten, das scheinbar Sicherheit und Autonomie vermittelt.
Masking bei ADHS: Das Ringen mit dem inneren Chaos
Auch bei ADHS ist Masking verbreitet, gerade bei Frauen und Mädchen.
- Viele kämpfen darum, nach außen „geordnet“ oder ruhig zu wirken, während sie innerlich ständig Unruhe und Getriebensein empfinden.
- Impulsivität und Gefühlsausbrüche werden oft unterdrückt, weil sie fürchten, als unbeherrscht oder auffällig zu gelten.
- Starke Emotionen wie Wut, Angst oder Trauer halten sie zurück, aus Angst, das eigene Umfeld damit zu überfordern.
- Um nicht aufzufallen, neigen manche zu Perfektionismus, planen penibel ihren Tag und setzen sich selbst enorm unter Druck.
Dieser Drang, „normal“ zu erscheinen, mag den äußeren Erwartungen entsprechen, ist jedoch kräftezehrend. Im Inneren bleiben Unruhe und das Gefühl, sich ständig verstellen zu müssen. Manche Betroffene suchen sich deshalb Nischen, um wenigstens irgendwo Kontrolle zu empfinden – dazu gehört oft das Essverhalten, das man diszipliniert steuern oder als Ventil missbrauchen kann.
Essstörungen als Antwort auf Masking
Betroffene mit Autismus oder ADHS berichten immer wieder, dass sie früh gelernt haben, sich der Umwelt anzupassen – nur in ihrem Essverhalten lag dann noch das Gefühl von Selbstbestimmung. Das kann sich unter anderem folgendermaßen äußern:
- Kontrolle: Hungerphasen oder exaktes Kalorienzählen erzeugen das Gefühl, wenigstens auf diesem Gebiet frei entscheiden zu können.
- Reduzierung von Reizen: Manche empfinden Nicht-Essen als Möglichkeit, sensorische Eindrücke (Geschmack, Geruch, Völlegefühl) zu vermeiden.
- Emotionsregulation: Binge-Eating kann als Ventil für innere Anspannung dienen.
- Ausdruck von Not: Der eigene Körper wird zum Medium, um Schmerz, Hilflosigkeit oder Selbstablehnung zu demonstrieren.
Hier zeigen sich Essstörungen nicht nur als „Widerstand“, sondern als ein funktionaler Versuch, überfordernde Lebensumstände zu bewältigen. Langfristig resultiert jedoch häufig eine massive gesundheitliche und psychische Belastung.
Diagnostik: Wenn Anpassung Diagnosen erschwert
Da viele Mädchen und Frauen mit Autismus oder ADHS ihr neurodivergentes Verhalten so geschickt überdecken, erhalten sie oft gar keine oder eine sehr späte Diagnose. Von außen wirken sie ruhig, freundlich und angepasst. Wer genau hinschaut, entdeckt jedoch häufig, dass das eigentliche Befinden von:
- starker Erschöpfung nach sozialen Kontakten,
- einem Gefühl des „Rollen-Spiels“ im Alltag,
- Schwierigkeiten, Wünsche oder Gefühle zu äußern,
- exzessivem Perfektionismus (z. B. in Schule und Beruf) und
- auffälligen Essmustern
geprägt ist.
Diese inneren Kämpfe bleiben oft unerkannt, weil Masking nach außen hin scheinbar reibungsloses „Funktionieren“ suggeriert. In der Diagnostik sollte daher genau überprüft werden, ob und wie stark die betroffene Person ihre Symptome verbirgt, um einer Fehleinschätzung vorzubeugen.
Die Folgen von chronischem Masking
Masking ist nicht einfach nur eine Verhaltensweise – es ist mit erheblichen psychischen Risiken verbunden. Mögliche Langzeitfolgen sind:
- Erschöpfung: Durch das ständige Unterdrücken eigener Impulse.
- Identitätsverlust: Die Frage „Wer bin ich eigentlich ohne meine Maske?“ bleibt unbeantwortet.
- Angststörungen: Aus der ständigen Furcht heraus, „enttarnt“ oder abgelehnt zu werden.
- Depression: Das Gefühl, nie wirklich „gut genug“ oder authentisch sein zu dürfen.
- Essstörungen: Als eines der häufigsten Ventile zum Umgang mit innerem Chaos und Druck.
Masking darf somit nicht unterschätzt werden. Für Betroffene kann es ein belastendes Doppelleben bedeuten, das grundlegende Lebensbereiche und Beziehungen beeinträchtigt.
Therapie: Sicherheit statt angepasster Fassade
Der wichtigste Ansatz in der Therapie besteht darin, Masking nicht als Widerstand zu deuten, sondern als über Jahre entwickelten Schutzmechanismus. Darauf bauen folgende Prinzipien auf:
- Validierung statt Bewertung
Therapeut*innen sollten den Betroffenen das Gefühl geben, verstanden zu werden, anstatt ihnen mangelnde Kooperationsbereitschaft zu unterstellen. - Individualität ermöglichen
Keine Standardtherapie, sondern passgenaue Angebote, die neurodivergente Besonderheiten berücksichtigen und ausreichend Flexibilität schaffen. - Reizschutz schaffen
Wenn möglich, sollte die Umgebung an Reizempfindlichkeiten angepasst werden (weniger Lärm, weniger visuelle Überforderung), damit echte Offenheit für Therapie entstehen kann. - Funktionalität hinterfragen
Nicht vordergründig auf „Funktionieren“ abzielen. Stattdessen herausarbeiten, welche Bedürfnisse Betroffene wirklich haben und wie sie ihr Leben an diese anpassen können. - Essverhalten nicht isoliert betrachten
Essen (oder Nicht-Essen) als Ausdruck komplexer innerer Vorgänge begreifen und nicht lediglich als ein Symptom, das es zu unterdrücken gilt.
Fazit: Hinter der Fassade beginnt Heilung
Masking ist weit mehr als nur eine vorübergehende Anpassung. Für viele Mädchen und Frauen mit Autismus oder ADHS wird es zu einer Dauerschleife, die langfristig Ängste, Erschöpfung und Essstörungen begünstigt. Die ständige Selbstkontrolle zehrt an Kräften, führt zu Selbstzweifeln und verhindert ein authentisches Leben.
Dennoch gibt es Wege aus diesem Teufelskreis. Wer versteht, dass Masking ein Schutzmechanismus ist und keine Verweigerung, kann in Therapie und Alltag neue Strategien entwickeln. Offenheit, Sensibilität und Respekt sind entscheidend, um diese Masken Stück für Stück abzulegen.
Bei Sorgen um ein Kind oder eine nahestehende Person kann ein behutsames Gespräch hilfreich sein. Verständnis und Unterstützung schaffen eine wichtige Grundlage. Das Angebot richtet sich an Familien und bietet passgenaue Hilfen – individuell, einfühlsam und professionell. So kann sich aus einem überfordernden Alltag allmählich ein Leben entwickeln, in dem Menschen so leben können, wie es ihrer eigenen Persönlichkeit entspricht.